Wer bin ich, und wie viele?
Ich-Zustände der Transaktionsanalyse.

Je nach Situation fühlen, denken und verhalten wir uns ganz unterschiedlich. Mal kindlich, mal erwachsen, mal so, wie wir es von unseren Eltern kennen. Doch wie ist es möglich, dass wir so viele unterschiedliche Anteile in uns tragen?

Wie oft denken wir über Dinge nach, träumen davon, etwas zu tun, das uns reizt. «Wie wäre es, wenn ich jetzt…» – geistert es in unserem Kopf herum – «… den Job ohne Anschlusslösung kündigen, ein neues Studium mit Mitte 40 oder 50 beginnen oder endlich mal meine ehrliche Meinung über Dinge sagen würde, die mich stören“. 

Wir spüren innerlich einen Impuls und gehen diesem in unserer Fantasie (mal mehr, mal weniger) nach, und gleichzeitig meldet sich ein Gefühl in uns, dass wir das nicht können. «Das macht man nicht», «was würden bloss die anderen denken» äussert sich ein Teil in uns. In der Fantasie malen wir uns meist ein Bild aus, das negativ geprägt ist: Die anderen könnten negativ über uns denken, es könnte nicht gut enden, wir haben zu grosse Angst vor dem, was passieren könnte.

Berne’s Idee des Eltern-Ich, Erwachsenen-Ich, Kind-Ich

Um zu verstehen, was da genau in uns abläuft, ist das Konzept der Ich-Zustände der Transaktionsanalyse sehr hilfreich. Eric Berne (1910-1970), Psychiater und Begründer der Transaktionsanalyse, beobachtete bereits in den Anfängen seiner Tätigkeit mit seinen Patienten, dass diese ganz unterschiedliche, manchmal sehr schnell wechselnde mentale und emotionale Zustände mit entsprechendem Verhalten und Ausdruck einnehmen konnten. Seine Patienten nahm er in gewissen Momenten als erwachsene Gesprächspartner, dann wieder als kindlich oder elterlich im Denken, Fühlen und Verhalten wahr (vgl. Kessel/Raeck/Verres 2021: S. 105). Aus diesen Beobachtungen heraus entwickelte Berne das Konzept der sogenannten «Ich-Zustände»: Jeder Mensch verfügt über drei Ich-Zustände, den «Eltern-Ich-Zustand», den «Erwachsenen-Ich-Zustand» und den «Kind-Ich-Zustand», vergleichbar mit Sigmund Freud’s Idee von einer inneren Struktur des Es, Ich und Über-Ich.

Berne konstatierte: «Wenn Sie etwas nicht auf Ich-Zustände zurückführen können, ist es nicht Transaktionsanalyse» (Berne, 1973, S. 71).

Dieses Ich-Zustands-Modell nannte Berne das Strukturmodell und wird wie folgt dargestellt:

Das Strukturmodell beschreibt, wie etwas in mein Leben gekommen ist, wie und weshalb ein Mensch so geworden ist, wie er heute ist.

Definition des Eltern-Ich, Erwachsenen-Ich, Kind-Ich

Eltern-Ich-Zustand

Im Eltern-Ich-Zustand wird das Denken, Fühlen und Verhalten wichtiger Bezugspersonen wie Eltern, Grosseltern, Lehrer, Gesellschaft, Kultur, Religion, Social Media usw. gespeichert, welches wir von diesen übernommen haben. Welche Werte und Normen haben diese Autoritätspersonen (vor-)gelebt? Welche Einstellungen hatten sie gegenüber bestimmten Themen? Wie verhielten und fühlten sie sich? Da Kinder wichtige Bezugspersonen grösstenteils als Menschen erleben, die die Welt definieren, enthält der Eltern-Ich-Zustand des Strukturmodells auch viele Weisungen und Definitionen («Was man soll/muss»).

Wenn dieser Zustand aktiviert ist, spule ich entsprechend etwas ab, das ich von aussen übernommen habe (Mutter/Vater/Grossvater etc.). Wenn ich mich genau darauf achte, spüre ich, dass sich dies aber auch irgendwie etwas fremd anfühlt, dass ich in diesem Moment nicht im Hier und Jetzt bin.

Da dieser Zustand «von aussen» übernommen ist, sind hier auch Themen spürbar, welche über drei bis fünf Generationen (sogenannte transgenerationale Themen) weitergegeben wurden. So könnte hier beispielsweise die Frage gestellt werden, welche Träume oder Berufswünsche in der eigenen Sippe vorherrschten und diese von mir weitergelebt werden.

Erwachsenen-Ich-Zustand

Die zentrale Frage des Erwachsenen-Ich-Zustandes lautet: Reagiere ich aus meinem Eltern-Ich-Zustand oder Kind-Ich-Zustand heraus oder wie entspricht es mir im Hier und Jetzt zu denken, fühlen, verhalten? Wenn dieser Zustand aktiviert ist, befinde ich mich in der Gegenwart und bin fähig zu erkennen, wie ich aus meinem Eltern-Ich-Zustand oder Kind-Ich-Zustand reagieren würde. Aufgrund dieser Bewusstheit und der damit entstehenden Autonomie ist es mir möglich, im Hier und Jetzt Entscheidungen zu treffen, welche meines Erachtens der Situation angemessen sind.

Kind-Ich-Zustand

Im Kind-Ich-Zustand werden Erfahrungen gespeichert, welche ich als Kind selbst erlebt habe. Wenn dieser Zustand aktiviert ist, werden entsprechend Fühlen, Denken und Verhalten aktiviert, wie ich es als Kind selbst erlebt habe – ich wiederhole etwas von früher, und weiss aber gleichzeitig nicht so recht, ob dieses Verhalten nun angemessen ist oder nicht. Dieser Zustand wird auch als regressiver Zustand bezeichnet, da wir fühlen, denken und uns verhalten, als wären wir noch das vier-, fünf- oder siebenjährige Kind von damals. Gemäss Kessel, Raeck und Verres denken Kinder bis zum Alter von sechs bis acht Jahren noch magisch und egozentrisch. Das heisst, dass sie noch nicht zwischen Realität und Fantasie unterscheiden können (beispielsweise die Angst, dass sich unter dem Bett ein Raubtier verstecken könnte) und beziehen ihre Erfahrungen egozentrisch auf sich selbst («meine Eltern haben sich wegen mir getrennt»). Daraus resultiert die Entwicklung von Glaubenssätzen («Ich muss es allen recht machen, damit es keinen Streit gibt»). Solche Glaubenssätze sind für Kinder wichtig, da sie ihnen helfen, mit ihren Ängsten umzugehen und der Erfahrung Sinn verleihen. Wird entsprechend bei erwachsenen Personen der Kind-Ich-Zustand aktiviert, fühlen, denken und verhalten wir uns wieder wie damals als Kinder.

Beispiel der Ich-Zustände

Wenn wir uns nun in einer Situation befinden, und wir innerlich anfangen, Gründe aufzuzählen, weshalb wir dies oder jenes nicht tun sollten (beispielsweise einen Job ohne Anschlusslösung kündigen), so befinden wir uns sehr wahrscheinlich in unserem Eltern-Ich Zustand. Es sind Botschaften unserer Eltern oder anderer Autoritätspersonen, die wir als Kinder wahrgenommen und abgespeichert haben («Ein vernünftiger Mensch kündigt seine Arbeitsstelle nicht, wenn er keine neue in Aussicht hat»).

Da wir diese Botschaften als Kind abgespeichert haben, ist es gut möglich, dass sie heutzutage für uns nicht mehr wirklich sinnvoll sind und sich als hinderlich erweisen könnten, da sich beispielsweise die Arbeitswelt/-einstellung stark verändert hat und eine Auszeit zur Normalität geworden ist. Entsprechend gilt es, diesen inneren Anteil zu erkennen, zu differenzieren und mit dem Erwachsenen-Ich-Zustand zu prüfen: Wer von meinen wichtigen Bezugspersonen würde dies sagen (Eltern-Ich-Zustand)? Was habe ich als Kind erlebt, das dieser Situation ähneln könnte (Kind-Ich-Zustand)? Was denke ich, ist heute für mich angemessen?